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Einfach machen

20.07.2023
Marc Rediker sitzt am Steuer eines Gabelstaplers

„Der Arbeitsmarkt soll inklusiv werden“, betonen Sozialpolitiker*innen. Der Weg dahin ist oft lang und steinig. Dass es auch anders gehen kann, zeigen Marc Rediker und der Hartleb-Getränkefachmarkt in Meschede im Sauerland. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) fördert den Arbeitsplatz langfristig durch das LWL-Budget für Arbeit.

„Ding-dong“, löst die Klingel automatisch aus, als Erika Weber ihren Einkaufswagen mit Bier- und Sprudelkästen in Hartlebs Getränkemarkt schiebt. Marc Rediker eilt zur Stelle, packt beherzt die Kästen und stellt sie dorthin, wo das Leergut der Kundinnen und Kunden abgestellt wird. Dann vermerkt er die Anzahl der abgegebenen Kästen auf einem Zettel, den er Frau Weber anreicht. Zugleich fragt er nach ihren Wünschen. „Zweimal Weißbier, zweimal Mineralwasser, und ein Cola-Orange-Mix“, sagt Frau Weber. Marc rollt den Wagen hierhin und dorthin. Er weiß, wo die entsprechenden Getränke stehen, und er weiß auch, welche Marken Frau Weber bevorzugt, denn Frau Weber ist Stammkundin. Dann geht’s zur Kasse. René Telke, Inhaber von Hartleb-Getränke, kassiert für die neue Ware, zieht den Leergut-Bon ab. Frau Weber bezahlt, unterhält sich kurz mit dem Chef. „Soll ich die Getränke ins Auto bringen?“, fragt Marc. „Aber gern!“, erwidert Frau Weber. Die beiden verlassen den Markt, Frau Weber öffnet die Heckklappe, Mark hebt die Bier- und anderen Kästen in den Kofferraum. Frau Weber drückt die Klappe zu, dankt mit einem kleinen Trinkgeld, grüßt herzlich und setzt sich ans Steuer ihres Autos. „Gern geschehen, bis zum nächsten Mal!“, ruf ihr Marc nach. Dann fährt sie vom Parkplatz des Getränkemarkts.

Leergut annehmen und sortieren, Kundinnen und Kunden bedienen, Gläser reinigen und Werbeplakate anbringen: das ist der eine Teil von Marc Redikers Arbeitswelt im Hartleb Getränkemarkt in Meschede. Hinzu kommen viele weitere Aufgaben im Markt selbst, im Lager oder außerhalb, bei denen Marc mitarbeitet. Denn Hartleb-Getränke ist mehr als nur eine Verkaufsstelle für Bier, Sprudel, Wein und Spirituosen, sondern bietet umfassenden Service: So werden auch Kundinnen und Kunden zuhause beliefert, Feste und Feiern mit Zapfanlagen und Getränken ausgestattet.

Jeder Tag ist etwas Besonderes

Auf den ersten Blick erscheint Marc Redikers Arbeitswelt wie viele andere in Tausenden Getränkemärkten von Flensburg bis Garmisch-Partenkirchen. Für Marc selbst ist jeder Tag, an dem er hier zur Arbeit gehen kann, etwas Schönes und Besonderes. Etwas, worauf er stolz ist und wobei er sich wohlfühlt. Das war leider nicht immer so. Dem 22-jährigen jungen Mann aus dem nahe gelegenen Cobbenrode fallen manche Tätigkeiten schwer, und er braucht mehr Zeit dafür als andere, zum Beispiel lesen und schreiben.

Das Lernen auf einer „normalen“ Schule blieb ihm verwehrt. Er besuchte stattdessen diverse Förderschulen, zuletzt die Kardinal-von-Galen-Schule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung in Eslohe. Für die meisten Kinder mit anderen Lernmöglichkeiten sind begrenzte Perspektiven vor allem auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt vorprogrammiert, wie die Zahlen im aktuellen Bericht zur Arbeitsmarktsituation schwerbehinderter Menschen unterstreichen. Oft scheint am Ende die Arbeit in einer Werkstatt alternativlos – trotz aller gesetzlicher Regelungen, um die Inklusion auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit Ausgleichszahlungen zu fördern.

„Liebe auf den ersten Blick“

Bei Marc Rediker war das - zum Glück - anders. Schon während der Schulzeit konnte er während eines Praktikums in die Welt von Hartleb-Getränke schnuppern. Ein weiteres Praktikum in einem Supermarkt konnte bei Marc indes nicht zünden. Er hatte bereits beim ersten Mal gefunden, was für ihn auch heute noch immer zählt: eine ihn erfüllende Arbeit, die auch angemessen bezahlt wird, und vor allem ein tolles Team, welches ihn trägt und hält. Es war wie „Liebe auf den ersten Blick“, schmunzelt Mark.

Während die Mehrzahl deutscher Arbeitgeber*innen noch immer eine Ausgleichabgabe zahlt, als Menschen mit Behinderungen einzustellen, war es für René Telke überhaupt keine Frage, Marc Rediker nach Schulabschluss und einem weiteren Praktikum Anfang dieses Jahres unbefristet anzustellen. „Marc erledigt seine Aufgaben gewissenhaft und korrekt, er schätzt die Kollegen und er wird ebenso anerkannt, die Kundschaft liebt ihn“, sagt der Chef. „Wir sind sehr froh, ihn in unserem Team zu haben.“ Dass er bei vielen Aufgaben mehr Zeit und auch immer wieder Unterstützung brauche, sei für ihn und die anderen Mitarbeitenden kein Problem. Wenn etwas beim ersten oder zweiten Mal nicht klappen sollte, dann gäbe es eben weitere Chancen. „Marc lernt jeden Tag hinzu“, freut sich René Telke. Der nächste Plan: Marc soll einen Stapler-Führerschein machen, dann kann er auch die schwereren Arbeiten, die im Lager anfallen, übernehmen.

Förderung von vielen Seiten

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) fördert den Arbeitsplatz von Marc Rediker über das  so genannte Budget für Arbeit, welches die Chancen von Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt stärken soll, für fünf Jahre. Die Agentur für Arbeit zahlt ein Jahr lang einen Eingliederungszuschuss. Gut für die Unternehmenskasse, aber für René Telke nicht der entscheidende Faktor. „Marc hat, wie jeder Mensch, Chancen verdient sich zu entwickeln und ein selbstbestimmtes Leben zu führen“, sagt Telke und setzt auf Vertrauen, Geduld und gegenseitige Wertschätzung, betont allerdings: „Marc lebt bei uns nicht in einer Blase. Wir sind ein Wirtschaftsunternehmen und müssen uns am Markt behaupten. Wir müssen alle anpacken und mithelfen, dass der Laden läuft. Hier zieht jeder mit, jeder auf seine Art und jeder wie er kann. Das gilt auch für Marc.“ Seit seiner Schulzeit wird Marc Rediker vom Integrationsfachdienst (IFD) der Diakonie Ruhr-Hellweg begleitet. Für Marc eine wichtige „Leitplanke“, aber auch René Telke profitiert, zum Beispiel: „Der IFD hat mich sehr kompetent durch den Förderungsdschungel geführt.“

Für Heinz Arenhövel klingt das alles wie Musik in den Ohren. Der ehemalige Schulleiter der Kardinal-von-Galen-Schule und stellvertretende ehrenamtliche Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderung des Hochsauerlandkreises engagiert sich besonders für junge Menschen mit Behinderung, die an der Schwelle zum Berufsleben stehen. Er wünscht sich deshalb viel mehr Arbeitgeber*innen, die so denken, fühlen und vor allem handeln wie der Inhaber von Hartleb-Getränke. „Es wird viel darüber geredet und beraten, wie ein inklusiver Arbeitsmarkt gefördert werden könnte. René Telke macht es einfach.“

„Ding-dong“, klingelt es erneut am Eingang des Getränkemarkts. Der nächste Kunde fährt sein Leergut hinein. Der nächste Job für Marc Rediker: „Was kann ich für Sie tun?“

Text/Fotos: MIchael Kalthoff-Mahnke/KSL.Arnsberg

Das Bild zeigt vier Personen. Dies sind von links René Telke, Marc Rediker, Rafael Blume und Heinz Arenhövel.

Marc Rediker (2. von links) fühlt sich wohl bei Hartleb-Getränke. Darüber freuen sich Inhaber René Telke (links), Mitarbeiter Rafael Blume (2. von rechts) und Heinz Arenhövel, stellvertretender ehrenamtlicher Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderung des Hochsauerlandkreises.