Dr. Theresia Degener redet nicht um den heißen Brei herum: Auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft brauche es einen regelrechten Systemwechsel. "Und der steht noch aus", sagt die Professorin an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum. Von 2011 bis 2018 war sie Mitglied und Vorsitzende des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Anlässlich des Festakts zum zehnjährigen Bestehen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland am 26. März 2019 in Berlin wurde sie dafür von Bundessozialminister Hubertus Heil geehrt. Die Redaktion des KSL Arnsberg sprach mit der Bochumer Hochschullehrerin über Wunsch und Wirklichkeit der UN-BRK.
KSL: Frau Professor Degener, Sie waren von 2011 bis 2018 Mitglied des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, haben diese Gremium die letzten zwei Jahr als Vorsitzende geführt und mitgestaltet. Welche Erwartungen hatten Sie an die UN-BRK?
Prof. Degener: Selbstverständlich sehr große. Die Behindertenbewegung war bei der Verabschiedung der UN-BRK sehr euphorisch und voller Hoffnungen, dass Barrierefreiheit und Selbstbestimmung in allen Belangen zur gesellschaftlichen Realität würden.
KSL: Wo stehen wir in Deutschland heute? Wie in NRW? Im internationalen Vergleich?
Prof. Degener: Noch längst nicht da, wo wir stehen könnten. Wie die jüngste Studie des Deutschen Instituts für Menschenrechte zeigt, besteht in NRW enormer Handlungsbedarf in den Bereichen, Arbeit, Mobilität, Wohnen und Bildung. Dieses Bild lässt sich auf die Lage in den anderen Ländern und auf Bundesebene übertragen.
Segregierende (trennende, d. Red.) Strukturen sind in Deutschland politisch und wirtschaftlich fest verankert. Es braucht einen regelrechten Systemwechsel, und der steht noch aus. Wirtschaftlicher Wohlstand allein ist kein Garant für eine erfolgreiche Umsetzung, das zeigt auch der Blick in europäische Nachbarländer. Immerhin haben in Deutschland verschiedene Akteure in Politik und Wirtschaft Aktionspläne zur Umsetzung der UN-BRK entwickelt und damit Ziele gesetzt, an denen sie sich messen lassen müssen.
KSL: Wo sehen Sie die größten Erfolge?
Prof. Degener: Darin, dass das Thema Behinderung ein Menschenrechtsthema geworden ist.
KSL: ... und wo die größten Enttäuschungen?
Prof. Degener: Es finden in Bezug auf die UN-BRK viele Vereinnahmungen statt. Inklusion und Selbstbestimmung wird gerne als Etikett verwendet, aber der Inhalt ist oft weder menschenrechtsorientiert, noch inklusiv oder selbstbestimmt. Es lassen sich meines Erachtens drei Strömungen ausmachen: Eine Strömung aus der Behindertenbewegung, die die UN-BRK als Täuschung und als Ablenkungsmanöver wahrnehmen, weil die Versprechungen der UN-BRK nicht realisiert werden.
Eine zweite Strömung kommt aus den traditionellen Sonderwissenschaften und aus den Reihen der traditionellen Leistungsanbieter, die sich auf die UN-BRK beziehen, um segregierende Disziplinen und Einrichtungen zu erhalten. Eine dritte Strömung schließlich rekurriert sich aus Vertretern des Mainstreams, die immer schon wussten, dass der Platz für Behinderte nicht in der Mitte der Gesellschaft sein kann. Stichwort: Sonderpädagogisierung der Inklusion.
KSL: Wo sehen Sie die vordringlichsten Aufgaben für die Zukunft?
Prof. Degener: Die Überwindung separierender Strukturen in Bildung und Arbeitswelt. Die Ausweitung der Pflicht zur Barrierefreiheit auf den privaten Bereich. Die Etablierung einer menschenrechtsbasierten Psychiatrie und rechtlicher Betreuung. Das sind nur einige Beispiele.
KSL: Wo sehen Sie Deutschland nach 20 Jahre UN-BRK?
Prof. Degener: Mein Wunsch wäre es, dass alle behinderten Menschen unabhängig vom Grad ihrer Beeinträchtigung ein selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Leben führen können. Ob das in zehn Jahren zu erreichen ist? Ich weiß es nicht.
KSL: Dazu müssen Sie sicher viele dicke Balken bohren. Was stärkt Sie bei dieser herausfordernden Arbeit? Was ist Ihre persönliche Motivation?
Prof. Degener: Der Glaube an die Menschenrechte.
KSL: Gibt es Vorbilder für Sie?
Prof. Degener: Adolf Ratzka ist ein großes Vorbild. Er ist wohl einer der bedeutenden Väter der internationalen Behindertenbewegung. Ich bin sehr stolz, dass er am 2. April 2019 auf unserer Konferenz in Bochum reden wird.
Foto: Agnes van Wijnen