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24 Plätze sind zuviel

09.03.2020
Das Foto zeigt einen Mann im Rollstuhl auf dem Balkon seiner Wohnung. Forscher haben ermittelt, dass Menschen mit Behinderung bis ins hohe Alter möglichst lange in der eigenen Wohnung leben möchten. Foto: LWL

Forscher der Katholischen Hochschule NRW (KatHO NRW) in Münster haben zusammen mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) und dem Landesverband Lebenshilfe NRW untersucht, wie Menschen mit Behinderung im Alter leben wollen - und was Anbieter von Unterstützung tun können, damit das auch Realität werden kann.

Eine wichtige Erkenntnis des Projektes "MUTIG": Auch Menschen mit Behinderung wollen das, was Menschen ohne Behinderung wollen: möglichst bis ins hohe Alter in ihrer eigenen Wohnung leben und selbstbestimmt mit Unterstützung ihren Alltag individuell gestalten.

Die Wirklichkeit sieht bislang oft noch anders aus

Menschen mit geistiger Behinderung zum Beispiel leben im Alter noch mehrheitlich in Wohnheimen mit 20 und mehr anderen Menschen. Ihre Freiräume für eine individuelle Lebensgestaltung sind stark beschränkt. Das Forscherteam hat Wohnsettings und Wohndienste in Deutschland (in NRW und Bayern), in den Niederlanden und in Skandinavien untersucht und zeigt auf, was sich wie ändern sollte und anders gestaltet werden könnte. Menschen mit Behinderung des Lebenshilferats NRW haben sich an diesen Überlegungen beteiligt. Das Forschungsprojekt wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.

"Kleinere Wohngemeinschaften, mehr Autonomie der Betreuer, mehr digitale Technik"
Entscheidend sei, wie Menschen mit Behinderung selbst ihren Alltag gestalten wollen.

Das fordere auch das neue Bundesteilhabgesetz, so Projektleiter Prof. Dr. Friedrich Dieckmann vom Institut für Teilhabeforschung der KatHO NRW: "Das Leben in Wohneinrichtungen mit mehr als zwölf Personen, das zeigt die empirische Wohnforschung, wirkt sich negativ auf die individuelle Teilhabe und Lebensqualität aus. Wir müssen uns vom Wohnheim mit 24-Plätzen als Leitmodell verabschieden. Wir brauchen kleinere Wohn- und Hausgemeinschaften, eine größere Autonomie der Betreuerteams und mehr Einsatz von digitaler Technik."

"Wenn heute ältere Menschen mit Behinderung mehr Pflege und Unterstützung brauchen, ist es Aufgabe der Anbieter, ihre Unterstützung in der vertrauten Wohnung entsprechend anzupassen", so Prof. Dr. Sabine Schäper. Viele Anbieter dächten noch in "trägerinternen Versorgungsketten", die Menschen mit Behinderung aufgrund des Unterstützungsbedarfs in eine Wohnform sortiert. Und das Interesse des Trägers an der Auslastung eines Pflegeheims spielt eine große Rolle. "Im Ergebnis landen zu viele ältere Menschen mit gewöhnlichen Pflegebedarfen viel zu früh in Pflegeheimen." Das Bundesteilhabegesetz fordere dazu auf, die individuell notwendige Unterstützung unabhängig von der Wohnform zu gestalten.

Bei ihren Forschungen hat das Forschungsteam innovative Ansätze gefunden, wie es auch anders ginge, so Dieckmann und Schäper weiter. Ein besserer "Hilfemix" wäre ein großer Fortschritt. Dieckmann: "Wenn sich Profis aus der Behindertenhilfe, aus der Altenpflege und aus der Stadtteilarbeit besser abstimmten, kommt das dem betreuten Menschen mit Behinderung sofort zugute. Im besten Fall kann er durch einen guten Hilfemix auch im Alter in seiner eigenen Wohnung in seinem Viertel bleiben." Ein Schlüssel sei die Betreuung in der bei Nacht. Ein Beispiel aus den Niederlanden habe gezeigt, dass durch Einsatz digitaler Technologien eine eigene kleine Anzahl von Nachtwachen viele Bewohnerinnen und Bewohner mit Behinderung, die verteilt in einem Stadtteil allein, zu zweit oder in Wohn- oder Hausgemeinschaften leben, verlässlich und personalschonend nächtliche Sicherheit und Unterstützung geben.

Noch mehr selbstständiges Wohnen möglich machen

"Wir finanzieren die Hilfen für 32.000 Menschen mit Behinderungen im Betreuten Wohnen und für 22.000 Menschen in Heimen. Unsere Aufgabe, besteht darin, noch mehr selbständiges Wohnen möglich zu machen", so Jürgen Kockmann vom LWL. Darum habe der LWL zum Beispiel ein eigenes Programm mit innovativen Wohnprojekten ("Sewo") für insgesamt zehn Millionen Euro aufgelegt. "Wenn Sie zum Beispiel das Wohnprojekt in Bochum-Weitmar sehen, leben dort heute Menschen, von denen viele noch vor Jahren glaubten, dass sie wegen ihrer schweren Behinderungen nur im Heim leben könnten. Heute hat dort jeder sein eigenes Apartment."

Mit einer Kombination aus intelligenter Haustechnik ("Ambient Assisted Living"), gut organisierter Nachtwache und Vernetzung im Stadtteil sei das möglich. Kockmann: "Solche Ansätze sind ermutigend, das hat uns das Forschungsprojekt gezeigt."

"Entscheidend bei allen Beispielen neuer Wohnangebote ist grundsätzlich, dass sie die Wahlmöglichkeiten erweitern und ein selbstbestimmteres Leben ermöglichen bei notwendiger gewährleisteter Unterstützung", sagt Bärbel Brüning, Geschäftsführerin des Landesverbandes Lebenshilfe NRW e.V. Ein wesentliches Kennzeichen der Qualität dieses Projektes stecke nicht nur in der beeindruckenden Vielfalt unterschiedlicher erforschter Angebote, sondern auch darin, dass Menschen mit Behinderung selbst mitwirken konnten und ihre Wünsche und Vorstellungen in die Ergebnisse eingeflossen sind. Brüning: "Der Lebenshilferat NRW macht uns allen deutlich: es ist an der Zeit, zukünftige Bewohner*innen nicht nur zu fragen, sondern sie im besten Falle gleich von Anfang an in Planungen einzubeziehen und bei Forschungsprojekten als Co-Forscher*innen auf Augenhöhe mitwirken zu lassen. Leben in allen Lebensphasen, so wie ich das möchte, ist ein Wunsch, den alle Menschen gleichermaßen haben. Die Ergebnisse des Projektes zeigen gut, wie es gehen könnte und zeigen zugleich auch Hindernisse auf, die behoben werden müssen. Insgesamt ermutigende Ergebnisse."