Direkt zum Inhalt

Entscheidend ist, den Bedarf zügig zu decken!

ein Richterhammer

Anmerkungen von Manuel Salomon vom KSL Arnsberg zum Beschluss vom 20.05.2021, Aktenzeichen: L 9 SO 80/21 B ER des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen.
 
Der Sachverhalt

Der Antragsteller ist nach einem Verkehrsunfall und anschließendem ärztlichem Behandlungsfehler beeinträchtigt. Er wird rund um die Uhr in Doppelbesetzung unterstützt, und zwar von seinen Eltern sowie von Assistenzkräften.

Er begehrt vom örtlichen Sozialhilfeträger die Finanzierung von Assistenzleistungen, soweit seine Eltern als Pflegepersonen ausfallen. Sein Vater ist wieder erwerbstätig, seine Mutter droht wegen einer anstehenden Operation zeitweise auszufallen. Außerdem wendet sich der Antragsteller gegen die Berücksichtigung bestimmter Versicherungsleistungen als Einkommen. Aus Versicherungsleistungen hat er außerdem Geldzahlungen in sechsstelliger Höhe erhalten.

Seine Krankenkasse hatte einen entsprechenden Antrag zunächst an den örtlichen zuständigen Landschaftsverband weitergeleitet. Dieser wiederum übersandte den Antrag nach weiteren etwa zweieinhalb Monaten an den seiner Meinung nach zuständigen kommunalen Sozialhilfeträger als Träger der Hilfe zur Pflege.

Das Sozialgericht Köln als Vorinstanz hatte dieses Vorgehen gebilligt. Bei Leistungen der Hilfe zur Pflege handele es sich nicht um Leistungen zur Teilhabe. Die Fristen der Paragrafen 14ff. SGB IX seien deswegen nicht anzuwenden.

Die Entscheidung

Das Landessozialgericht Nordrhein‑Westfalen hat in einem Beschluss vom 20.05.2021 dem Antragsteller vorläufig (weitere) Leistungen zur Finanzierung seiner 24-Stunden-Assistenz in Doppelbesetzung zugesprochen (LSG Nordrhein‑Westfalen, Beschluss vom 20.05.2021, Aktenzeichen: L 9 SO 80/21 B ER). Dabei hat das Gericht u. a. Folgendes entschieden:

  • Vorläufige Leistung trotz fehlender Entscheidung über Rechtsnatur der Leistung

Für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist es zunächst egal, ob es sich bei der streitigen Leistung um Hilfe zur Pflege oder um Eingliederungshilfe handelt. Die Kommune als Trägerin der Hilfe zur Pflege und Antragsgegnerin wurde vorläufig zur Leistung verpflichtet. Ein möglicher Erstattungsanspruch gegen den Träger der Eingliederungshilfe ist danach ausreichend, um den finanziellen Interessen der Kommune Genüge zu tun – falls sich die in Frage stehenden Leistungen im Hauptsacheverfahren dann doch als solche der Eingliederungshilfe herausstellen sollten, für die die Antragsgegnerin gegebenenfalls nicht zuständig wäre.

  • Vorläufige Leistung trotz (noch) fehlendem Pflege- und Betreuungsvertrag

Als Sachleistungsverschaffungsanspruch erkennt der Senat dem Antragsteller die beantragten Leistungen schon zu, obwohl dieser noch keinen unterschriebenen Vertrag mit einem Pflege- und Betreuungsdienst vorlegen konnte. Es sei ausreichend, dass derjenige Leistungserbringer feststehe, der im Falle einer Kostenzusage die Leistungen erbringen solle. Außerdem sei aus dem Kostenvoranschlag der beabsichtigte Umfang der Leistungen und die auf den Kostenträger zukommende Verpflichtung ausreichend ersichtlich.

  • Vorläufige Leistung trotz erst absehbarem Bedarf

Es sei dem Antragsteller nicht zumutbar, erst den Ausfall seiner Pflegeperson abwarten zu müssen, bevor er gerichtliche Hilfe wegen einer ersatzweise zu finanzierenden Pflegekraft bekommen könne.

Die Mutter des Antragstellers musste sich absehbar einer Operation unterziehen und drohte deswegen als Pflegeperson zeitweise auszufallen. Der Antragsteller wollte für diese Zeit eine zweite Pflegekraft finanzieren lassen. Das Sozialgericht Köln als Vorinstanz hatte den Antrag insoweit als unzulässig abgelehnt, schließlich pflege seine Mutter den Antragssteller aktuell noch. Demgegenüber hat das LSG den Antrag auch insoweit für zulässig gehalten. Es sei dem Antragsteller nicht zumutbar, den Ausfall seiner Mutter erst abzuwarten, zumal die Suche von Pflegekräften einen gewissen Vorlauf erfordere.

  • Vorläufige Leistungen trotz Bankguthaben

Das Gericht hat weiter vorläufig zu Gunsten des Antragstellers angenommen, das vorhandene Vermögen von etwa 450.000 EUR stamme aus Schmerzensgeld. Es stehe somit jedenfalls nach vorläufiger Einschätzung einer Finanzierung von Assistenzleistungen nicht entgegen (vergleiche Paragraf 90 Absatz 3 SGB XII bzw. Paragraf 139 Satz 3 SGB IX) – vorbehaltlich einer möglichen anderen Entscheidung im Hauptsacheverfahren.

Es sei dem Antragsteller überdies auch nicht zumutbar, seinen Bedarf bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren aus diesem Vermögen zu decken. Wegen des umfangreichen Bedarfs zweier Assistenzkräfte und weiterer glaubhaft gemachter behinderungsbedingter Aufwendungen schmelze das Vermögen erwartbar schnell ab. Ohne die Sicherstellung von Pflege und Betreuung sei der Antragssteller in seinem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz beeinträchtigt.

Anmerkung KSL Arnsberg

Die Entscheidung ist schon älter, und es gibt auch schon Anmerkungen dazu (z. B. https://sozialrecht-rosenow.de/meldung/eilrechtsschutz-in-der-sozialhilfe-bei-erheblichem-verm%C3%B6gen.html und Seligmann in Rechtsdienst der Lebenshilfe 2022, 26 f. Letztere war mein Anlass, mich mit der Entscheidung zu befassen).

In der Entscheidung finden sich einige erfreulich pragmatische Punkte, um Unterstützungsbedarfe zügig und umfassend zu decken.

Demgegenüber werden mögliche Streitigkeiten um Zuständigkeiten, einzusetzendes Vermögen, formale Nachweise usw. „nach hinten geschoben“ (d. h. ins Hauptsacheverfahren bzw. sogar in ein mögliches Erstattungsverfahren zwischen Sozialleistungsträgern).

Dort können sie dann verhandelt werden, während der laufende Unterstützungsbedarf Antragstellers gedeckt ist.

So sollte das immer sein!

Im Einzelnen:

  • Vorläufige Leistung trotz nicht abschließend festgestellter Rechtsnatur der Leistung

Einer dieser Punkte ist es, die genaue Einordnung der Leistung offenzulassen. So müssen die Voraussetzungen des Paragraf 103 Abs. 2 SGB IX erst im Hauptsacheverfahren geprüft werden – vor allem die Frage, ob die mit den Eingliederungshilfeleistungen verfolgten Ziele erreichbar sind.

Generell sollte die Entscheidung auch auf die umgekehrte Situation übertragbar sein (zum Beispiel könnte ein Träger der Eingliederungshilfe als Antragsgegner auf seinen möglichen Erstattungsanspruch gegen einen Träger von Pflegeleistungen verwiesen werden. Die Frage, inwieweit Teilhabeziele der Eingliederung erreichbar sind, müsste man auch dann erst im Hautsachverfahren klären).

  • Vorläufige Leistung trotz erst absehbarem Bedarf

Unter dem Stichwort „vorbeugender Rechtsschutz“ lässt das LSG den Antragsteller nicht erst ganz ohne (zweite) Assistenzkraft dastehen, bevor es ihm - aus einer dann schwachen Position heraus - Rechtsschutz zubilligt. Stattdessen ermöglicht es vorausschauende Planung, berücksichtigt Vorlaufzeiten bei der Suche nach Personal und ermöglicht Rechtsschutz, während der aktuelle, laufende Bedarf noch gedeckt ist.

  • Vorläufige Leistung trotz (noch) fehlendem Pflege- und Betreuungsvertrag

Das Gericht bietet einen Ausweg aus dem Teufelskreis zwischen Kostenträger, der ohne Unterlagen nicht bewilligen will, einerseits und dem Leistungserbringer, der ohne Kostenzusage den Bedarf nicht decken will, andererseits.

  • Vorläufige Leistungen trotz Bankguthaben

Das ist mal gut!

Schmerzensgeld ist bei der Bewilligung von Assistenzleistungen nicht zu berücksichtigen. Das ist nichts Neues. Und in der Praxis ist das auch kein Problem, sobald einmal feststeht, dass es sich um Schmerzensgeld handelt.

Dass ein sechsstelliges Bankguthaben noch nicht einmal übergangsweise angegriffen werden muss, um bis zum Ende des Hauptsacheverfahrens den Bedarf zu decken, das ist hier erfreulich deutlich benannt!

P.S.:

Für die Fristen in Paragrafen 14ff. SGB IX muss es reichen, dass es sich um Teilhabeleistungen handeln könnte, man also gerade um diese Frage streitet.

Sonst läuft der Zweck der Paragrafen 14ff. SGB IX ins Leere, den Menschen mit Behinderungen zügig Leistungen wie aus einer Hand zukommen zu lassen. Aber dieser Vorwurf geht an das Sozialgericht der Vorinstanz.

 

Kontakt

Manuel Salomon

Manuel Salomon
E-Mail manuel.salomon@ksl-arnsberg.de